Sandro Zanetti
Das unbeschriebene Blatt als Ideengenerator
Zwar gibt es die weitverbreitete Angst vor dem leeren Blatt – die
Furcht davor, dass einem die Ideen ausgehen, wenn man den Stift in die
Hand nimmt. In literaturhistorischer und kulturgeschichtlicher
Perspektive sind allerdings die Zeugnisse, die im unbeschriebenen Blatt
einen Produktivfaktor erkennen, weitaus reicher. So berichtet Goethe
1831 von seiner Arbeit am zweiten Teil des Faust:
„ich denke und erfinde täglich daran fort. Ich habe nun auch das ganze
Manuscript des zweiten Theils heute heften lassen, damit es mir als
eine sinnliche Masse vor Augen sei. Die Stelle des fehlenden vierten
Actes habe ich mit weißem Papier ausgefüllt, und es ist keine Frage,
daß das Fertige anlockt und reizt, um das zu vollenden, was noch zu
thun ist. Es liegt in solchen sinnlichen Dingen mehr als man denkt, und
man muß dem Geistigen mit allerlei Künsten zu Hilfe kommen.“ Die
Einfügung von weißen, unbeschriebenen Blättern ins Manuskript geschieht
hier also mit der expliziten Absicht, Gedanken anzulocken. Bei anderen
Autoren dient das unbeschriebene Blatt eher als Reflexionsmedium für
das Begehren, noch einmal von Neuem anfangen zu können (Mallarmé). Es
wird als Raum des Utopischen (Hölderlin, Bachmann) oder als produktive
Bedrohung (Celan, Hughes, Kafka, Rilke) wahrgenommen bzw. entworfen.
Doch selbst wenn es nur darum geht, die Angst vor dem leeren Blatt zu
ironisieren (Achternbusch, Gernhard, Jandl, Kunert), bleibt die
Vorstellung der weißen Fläche als solche produktiv. Das gilt auch für
die außerordentlich reiche Metapherngeschichte des unbeschriebenen
Blattes: der Tabula Rasa
als Bild der Seele, die sich für
Eindrücke von Außen empfänglich zeigt (Aristoteles, Locke, Freud,
Agamben). Als materielle Voraussetzung für den Schreibprozess ist das
leere Blatt der Ort, an dem Einfälle ihre Kontur gewinnen – oder das
Ringen um Einfälle zum Problem wird. (Das Projekt hat größere Ausmaße
als ursprünglich geplant angenommen und wird als einzelnes Buchprojekt
fortgesetzt.)