Ausführliche Beschreibung des Gesamtprojekts

Thematik

Versuche, Initialmomente künstlerischer und literarischer Erfindungen zu fassen und zu beschreiben, stehen vor einem grundsätzlichen Problem: Anfänge sind stets, sobald sie als Anfänge von etwas Bestimmtem behauptet werden, nachträgliche Konstruktionen. Es sind Festlegungen ex post. Als nachträgliche Festlegungen kommen sie jedoch in künstlerischen und literarischen Produktionsprozessen selbst bereits zum Tragen: Sie strukturieren diese in ihrer zeitlichen Orientierung. Werden Initialmomente als solche registriert, hat dies Folgen für den Fortgang des Prozesses. Die nachträgliche Festlegung ist selbst ein produktiver Akt. Werden Initialmomente in ihrem Konstruktionscharakter erkennbar, werden sie auch einer Analyse zugänglich.

  Das Netzwerk „Improvisation und Invention“ sucht methodische und theoretische Zugänge zu solchen Initialmomenten und ihrer Stellung und Verarbeitung in künstlerischen, vor allem aber in literarischen Produktionsprozessen. Einen Orientierungspunkt bilden dabei Theorien der Improvisation, so wie sie vor allem im Bereich der Musik und des Theaters sowie der Rhetorik entwickelt worden sind. Improvisation ist die Kunst, etwas ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif bzw. ad hoc dar– oder herzustellen. Vom Wort her ist das ‚Improvisierte‘ das ‚Nicht–Vorhergesehene‘, das ‚Unvorhergesehene‘. Gleichzeitig aber bezeichnet ‚Improvisation‘ das Verfahren, wie mit dem Unvorhergesehenen produktiv umgegangen werden kann. Improvisation ist deshalb nicht nur eine situativ bestimmte Praxis, die grundsätzlich gegenwarts– und zukunftsoffen ist. Sie ist auch eine Praxis, die etablierten Regeln folgt, auf Übung beruht, vorhandene Strukturen aktiviert. Nimmt man beide Aspekte zusammen, erklärt sich die Spannung, aus denen Improvisationen ihre Dynamik gewinnen.

  Es gehört mit zu den Interessen des Netzwerkes, herauszufinden, inwiefern sich Theorien der Improvisation, die nicht explizit im Hinblick auf literarische Produktionsprozesse entworfen worden sind, auf den Bereich der Literatur (überhaupt) übertragen lassen und wo diese Theorien gegebenenfalls ergänzt und erweitert werden müssen, wenn es darum gehen soll, spezifisch literarische Schreib– und Erfindungsprozesse zu analysieren. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Phänomen des literarischen Einfalls: Von ‚Einfällen‘ ist stets dort die Rede, wo sich in Prozessen der Lösungsfindung oder der Entwicklung von Innovationen schlagartig neuartige, für das weitere Vorgehen leitende Perspektiven mit entsprechend tiefgreifenden Konsequenzen auftun. Das gilt sowohl für literarische Prozesse im engeren Sinne als auch für kulturelle Praktiken in einem weiteren Sinne. Auch jenseits der Literatur lösen Einfälle ‚poietische‘ Impulse aus. Doch lassen sich Einfälle selbst nicht ohne weiteres auslösen und handhaben. Bereits ihre implizite Metaphorik weist darauf hin, dass sie eher zustoßen, dass sie einem eher passieren, als dass sie regelrecht produziert oder getan werden könnten. Das macht es schwierig, wenn nicht unmöglich, Einfälle im Rahmen konventioneller Handlungsbegriffe oder Verfahrenskonzepte, auch und gerade der Produktionsästhetik, zu denken. Durch ihre zumindest partikulare Unverfügbarkeit erweisen sich Einfälle in theoretischer Hinsicht als ebenso suspekt wie faszinierend. Die Rede von ‚Einfällen‘ ist daher auch ebenso mystifikationsanfällig wie anspruchsvoll für eine Theoriebildung, die sich an einer prozessanalytischen Auseinandersetzung mit Einfällen interessiert zeigt.

  Eine solche Auseinandersetzung visiert das Netzwerk in Form von Einzelstudien an, die in den gemeinsamen Arbeitstreffen vorbereitet und diskutiert werden. Dabei wird die Erklärungskraft des Modells ‚Einfall‘ in der Auseinandersetzung mit konkreten Arbeitsprozessen und Anordnungen sowie ihren Spuren immer wieder von neuem zu befragen und also auch einer Kritik zu unterziehen sein. Denn wer möchte den Erzählungen von zündenden Ideen, unverhofften Geistesblitzen, entscheidenden Momenten und glücklichen Fügungen, insbesondere bei ‚großen‘ Erfindungen, schlicht Glauben schenken? Doch wer möchte umgekehrt bezweifeln, dass es so etwas wie Einfälle gibt und dass sie für kreative Prozesse von eminenter Bedeutung sind?

  In den antiken Rhetoriken gehört die ‚inventio‘ zu den Grundlagen einer Heuristik, die insbesondere zu einer argumentativ stimmigen Gedankenabfolge hinführen soll; sie bezeichnet den Anfangsmoment in der planvollen Vorbereitung einer Rede. Doch steht sie als Anfangsmoment auch in den Rhetoriken bereits an der Schwelle zu dem, was systematisch nicht mehr – oder eben: noch nicht – so recht zu fassen ist. Nur aufgrund der systematischen Schwierigkeit, die Anfänge einer Gedankenfolge zu klären, konnte sich ein relativ starres Regelwerk (die Topik) ausbilden, das dazu bestimmt war, diese Schwierigkeit zu beheben oder abzumildern. Entsprechend ausführlich werden in den antiken Rhetoriken Regeln formuliert, wie man seine Argumente zusammensuchen kann und soll. Doch bleiben letztlich auch diese Regeln auf das Vertrauen angewiesen, dass der entscheidende Einfall im rechten Moment (kairos) ‚kommt‘, dass er – als ‚inventio‘ – ‚interveniert‘. Damit teilt die ‚inventio‘ in systematischer Hinsicht eine Grundspannung, die auch für die Improvisation – und ihre Theoretisierung: von den antiken Rhetoriken (Gorgias, Alkidamas, Cicero, Quintilian) bis zu den programmatischen Schriften der Situationisten im 20. Jahrhundert (Guy Debord) – kennzeichnend ist. So ist Improvisation zwar einerseits ein Verfahren, das auf Übung und Regeln beruht. Andererseits aber ist Improvisation stets darauf angewiesen, im rechten Moment, ohne dass dies kontrolliert werden könnte, Invention zu sein. ‚Actio‘ und ‚inventio‘ fallen dann in eins.

  Das wissenschaftliche Netzwerk „Improvisation und Invention“ nimmt diese verfahrensimmanente Spannung ernst. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die in den antiken Rhetoriken und Poetiken bereits zu entdeckende Spannung zwischen dem Setzen auf Regeln, Kalkül, Gedächtnis, Selbstbeherrschung einerseits und auf Genialität, Intuition, Enthusiasmus, Inspiration andererseits. Diese Spannung gibt Anlass, nach ihrer Produktivität für literarische und allgemein künstlerische Prozesse zu fragen und diese zu analysieren. Am Moment des Einfalls gewinnt diese Spannung ihre schärfste Kontur: Wie kommen Einfälle zustande? Gibt es eine Logik des Einfalls? Lassen sich Einfälle systematisieren? Gibt es Schreibverfahren und Wiedergabeformen (Notizen, Marginalien, Aphorismen, Anekdoten etc.), die besonders geeignet sind, Einfälle festzuhalten bzw. darzustellen? Welche Haltungen, Anordnungen, Techniken – oder welche Unterlassungen – können als Generatoren oder als Stimulatoren von Einfällen gelten? Welchen historischen Wandlungen unterliegen die entsprechenden Konzepte und Praktiken? Welche Aufschlüsse lassen sich daraus für eine Diagnose gegenwärtiger Innovationen oder angeblicher Innovationen gewinnen? Welche Dokumentationsprobleme impliziert das Sprechen oder Schreiben über Einfälle? Wie lassen sich diese Probleme eingrenzen? Und worin könnte die Rolle der Literatur, der literarischen Verfahren und poetischen Heuristiken, in diesen Prozessen bestehen? Wie werden Einfälle in der Literatur oder allgemein in den Künsten thematisiert, wie dargestellt? Und welche Aufschlüsse lassen sich über die Literatur und die Künste, in ihrem Verbund oder in ihrem Kontrast etwa zu Modellen aus den Naturwissenschaften, über das kulturelle Wissen von Einfällen gewinnen?

  Ausgehend von diesen Leitfragen zielen die Aktivitäten des wissenschaftlichen Netzwerkes zunächst in historischer Perspektive darauf ab, Konzepte aufzusuchen, zusammenzustellen und auszuwerten, die einsichtig machen, wie sehr gerade der Einfall als vermeintlich bloß momentanes Phänomen in seiner Konzeptualisierung von konkreten historischen (diskursiven, pragmatischen, aber auch situationsbedingten) Bedingungen abhängig ist, die sich – beschränkt man sich nur schon auf das Feld der Literatur – ausgehend von den antiken Theorien der Inspiration über barocke Konzepte der Gelegenheitsdichtung bis hin zu den heutigen Poetry Slams in ganz unterschiedlichen Strategien des Auffangens, Provozierens oder Einholens von Einfällen konkretisieren.

  Diese Strategien stehen im Falle der Literatur allesamt in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Aktcharakter und der Situationsbedingtheit der ästhetischen Praxis einerseits und deren schriftlicher Fixierung andererseits. Doch auch hier lässt sich – wie im Verhältnis von Enthusiasmus und Kalkül (vgl. Gellhaus 1995) – zeigen, dass in der Literatur und in der Arbeit an Literatur dieses Spannungsverhältnis nicht einfach als Problem anzusehen ist, sondern ebenso gut als Stimulans von Produktionsprozessen aufgefasst werden kann. Das Situative, Momentane, Flüchtige, Prozessuale, oft mündlich Artikulierte und szenisch Dargebotene, ist dann nicht einfach als das ‚Andere‘ der Literatur, sondern als integraler Bestandteil ihrer Produktivität zu verstehen. Hieraus erklärt sich auch das seit der Romantik (u.a. bei Andersen, Puškin, Odojewski) zu verzeichnende besondere Interesse der Literatur an der Figur des Improvisators, die im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit der Genieästhetik zu einem ausgezeichneten Reflexionsmedium gerade von literarischen Produktionsprozessen avanciert ist (vgl. Esterhammer 2005, 2008 und Zanetti 2009). Der Improvisator wird nicht als Kontrastfigur zum Schriftsteller aufgeboten, sondern er erscheint als dessen Zwillingsfigur.

  Eine solche Sicht der Dinge ist auch für die Interessen des Netzwerkes aufschlussreich: Sie unterstreicht die Tatsache, dass Improvisationsprozesse nicht auf das Klischee einer genialen und auratischen Schöpferkraft (aber auch nicht auf jenes einer handwerklichen Artistik) zu reduzieren, sondern ganz grundlegend als Strategien der Kontingenzbewältigung (oder besser: Kontingenztransformation) zu interpretieren sind. Improvisationen, so verstanden, lenken die Aufmerksamkeit auf das heterogene Ensemble all jener Faktoren, die Produktionsprozesse mitbestimmen.

  Dabei ist gerade der Umstand, dass diese Faktoren in aller Regel grundlegend verschiedenen Ordnungen angehören (Mündlichkeit / Schriftlichkeit; Prozesse / Materialien etc.) für die Interpretation situativer Praktiken, zu denen literarische Produktionsprozesse in ihren (wiederholten) Initialmomenten gehören, besonders aufschlussreich. Denn inkompatible Ordnungen nötigen, oder positiv formuliert, sie ermutigen dazu, erfinderisch zu sein, damit einmal in Gang gebrachte Prozesse – auch und gerade wenn deren Ausgang ungewiss ist – eine Fortsetzung finden können. Die Arbeit im Netzwerk wird zeigen, an welchen Stellen die traditionellen Improvisationstheorien erweitert oder ergänzt werden müssen, wenn es darum gehen soll, Erfindungsprozesse im eben beschriebenen Sinn zu analysieren. Mögliche weitere Perspektiven bieten Claude Lévi–Strauss’ Überlegungen zur Bricolage (Das wilde Denken), das Denkmodell des glatten und des gekerbten Raumes von Gilles Deleuze und Félix Guattari (Tausend Plateaus), schließlich Michel de Certeaus Überlegungen zu Strategie und Taktik (Kunst des Handelns). Doch erst die konkrete Arbeit im Netzwerk wird zeigen können, welche dieser Theorien (und welche weiteren) in der Auseinandersetzung mit literarischen Produktionsprozessen wirklich weiterführend sind.

  Diese Arbeit soll im Rahmen des Netzwerkes bewusst als gemeinsames Projekt vorangebracht werden. Bei aller angestrebten Offenheit der Gegenstandbereiche sowie ihrer historischen Differenzen treffen sich die einzelnen Projekte des Netzwerkes darin, dass sie auf eine Erörterung der Schnittmenge zwischen den beiden im Titel des Netzwerks genannten Komponenten „Improvisation und Invention“ abzielen. Die drei Stichwörter im Untertitel „Findkünste, Einfallstechniken, Ideenmaschinen“ bezeichnen dann drei Diskussionsfelder, die in Form einer Kooperation zwischen wissenschaftlichem Nachwuchs und renommierten Fachkollegen gemeinsam bearbeitet werden sollen. Mit diesen drei Stichwörtern sind drei unterschiedliche Fragerichtungen benannt, mit denen insbesondere das Phänomen des Einfalls methodisch eingekreist werden soll. Die einzelnen Arbeitstreffen nehmen diese Stichworte auf und orientieren sich schwerpunktmäßig an ihnen.

  Mit „Findkünste“ rücken die individuellen und subjektiven Voraussetzungen eines produktiven Umgangs mit Einfällen in den Fokus der Auseinandersetzung (Aufmerksamkeit, Interesse, Begehren, Assoziation). Hier wird sich die gemeinsame Diskussion auf die konzeptuellen Korrespondenzen und Differenzen zwischen den programmatisch entworfenen Produktionsmodellen in Novalis’ „Monolog“ und Heinrich von Kleists „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ konzentrieren und ausgehend davon nach Anschlussstellen zu anderen Produktionsmodellen fragen. Mit „Einfallstechniken“ wird der Akzent auf die technischen und schreibpraktischen sowie die darin eingehenden diskursiv bedeutsamen Vorkehrungen gelegt, aus denen Einfälle resultieren sollen. Die gemeinsame Diskussion wird sich hier auf das Zusammenspiel zwischen psychiatrischem Wissen, neoromantischer Literaturkonzeption sowie Psychoanalyse in André Bretons „Erstem Surrealistischen Manifest“ (écriture automatique) konzentrieren und ausgehend davon wiederum nach Anschlussstellen zu anderen Produktionsmodellen fragen. Mit „Ideenmaschinen“ sollen dann noch offensiver und weiträumiger die produktiven Verflechtungen und Spannungen zwischen maschinellen oder sonstigen apparativen Anordnungen und ihren humanen Interakteuren ins Zentrum des Interesses rücken. Aus einer gegenwartsoffenen Perspektive ist hier etwa an die literarischen Experimente im Umkreis der Computerliteratur (Serendipity–Phänomene, Assoziations–Blaster etc.) zu denken.

  Im Umkehrschluss wird schließlich zu erörtern sein, ob und inwieweit gegebenenfalls die mit dem zuletzt genannten Stichwort „Ideenmaschinen“ bezeichneten Produktionsmodelle – zu denen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive auch die Organisationsstrukturen und das Zusammenspiel distinkter Arbeitsschritte in einem Labor zu zählen sind – geeignet sind, die traditionellen ästhetischen Analysekriterien auch im Falle der untersuchten „Findkünste“ und „Einfallstechniken“ außer Kraft zu setzen bzw. kritisch zu befragen. Auf der anderen Seite wird dann aber auch zu berücksichtigen sein, dass gerade das Nachdenken über Improvisationsprozesse sich nie auf den Bereich des Ästhetischen beschränkt hat und zudem längst auch Eingang in sozialwissenschaftliche, ethnographische, organisations– und spieltheoretisch orientierte Forschungen gefunden hat (vgl. Kurt/Näumann 2008).

  Mit den drei Stationen „Findkünste“, „Einfallstechniken“, „Ideenmaschinen“ ist eine allmähliche Verschiebung der Fragerichtung von vornehmlich individuell konnotierten zu verstärkt interaktiv und kontextuell geprägten Einfallskonzepten angedeutet. Eine Aussage über historische Veränderungen ist mit dieser Auffächerung der systematischen Perspektive noch nicht getroffen, vielmehr bleibt die historische Rückvergewisserung, die Teil des Forschungsinteresses ist, für jede einzelne Fokussierung erst noch zu leisten. Historisch reichen die im Rahmen des Netzwerkes erarbeiteten Studien vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit der antiken Rhetorik (und ihren neuzeitlichen Wiederaufnahmen) soll dabei vor allem einer Klärung der Transformationsbewegungen dienen, die in der Moderne insbesondere an der radikalen Neukonzeption der ‚inventio‘ zu beobachten sind. Ähnliches gilt jedoch auch für die traditionellen Improvisationskonzepte, die in der Moderne zunehmend durch Modelle der produktiven Erzeugung von Kontingenz ersetzt werden und nicht mehr, wie etwa bei Quintilian, auf das gekonnte Meistern von Kontingenz abzielen. Eine Überprüfung und Dokumentation solcher Transformationsbewegungen kann jedoch prinzipiell nur in Einzelstudien erfolgen. Das wissenschaftliche Netzwerk „Improvisation und Invention“ möchte für solche Einzelstudien ein Dach bilden und zugleich ein Diskussionsforum etablieren, das es möglich machen soll, entsprechende Forschungsaktivitäten im deutsprachigen Raum und darüber hinaus zu verknüpfen.

 

Einordnung in die aktuelle wissenschaftliche Diskussion

Das Netzwerk schließt unmittelbar an die Forschungsergebnisse der aktuellen literaturwissenschaftlichen Schreibprozessforschung an (vgl. hierzu insbes. die Projektergebnisse des Forschungsprojekts „Zur Genealogie des Schreibens. Die Literaturgeschichte der Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“: www.schreibszenen.net). Das Netzwerk nimmt allerdings eine entscheidende Akzentverschiebungen vor, indem es sich auf den bislang auch innerhalb der literaturwissenschaftlichen Schreibprozessforschung weitgehend vernachlässigten Moment des Einfalls, der Ideenfindung, also der anfänglichen Innovationsmomente in kreativen Prozessen konzentriert und die Analyse dieser Momente zudem vor dem Hintergrund einer interdisziplinären Diskussion anstrebt (zur bisherigen Forschung vgl. insbes. Fetz/Kastberger 1998 sowie Thüring/Jäger–Trees/Schläfli 2009). Gerade die methodisch schwer zu fassenden Momente der Ideenfindung in Schreibprozessen sind bislang kaum untersucht. Es ist nicht nur so, dass die meisten historisch–kritischen Editionen von Schriftsteller–Nachlässen hier in ihrer Erklärungskraft an eine Ende kommen (im einfachsten Fall schon deshalb, weil mit der Frage nach dem Einfall das Problem der Grenzziehung in der Materialauswahl berührt ist), auch Archivstudien helfen nicht in jedem Fall weiter, denn fraglich bleibt ja, inwiefern Einfälle sich überhaupt dokumentieren (können).

  Mit dieser Frage ist die Relevanz von Archivstudien in keiner Weise in Frage gestellt, sie sind nötig, damit überhaupt gesehen werden kann, wo die Grenzen eines materialorientierten Ansatzes liegen – und immerhin, innerhalb dieser Grenzen lässt sich bereits viel erschließen: Skizzen, Notizen, Exzerpte, Entwürfe und Vorstufen zu ausgearbeiteten Texten geben Auskünfte über die Verarbeitungsmodi jener Einfälle, die im Prozess selbst registriert werden, über zeitliche Abfolgen, Transformationen und Verstetigungen. Einfälle, die als solche registriert werden und weiterführende Prozesse auslösen, hinterlassen in der Regel Spuren, die – wenn sich diese Spuren erhalten haben – einer Interpretation durchaus zugänglich sind. Gleichzeitig aber bleibt zu berücksichtigen, dass diese Spuren ihrerseits erklärungsbedürftig sind und also nicht bereits selbst als Erklärungen gelten können. Diese findet man vielmehr erst dann, wenn die Spuren in einem größeren Produktionskontext situiert werden. Dann allerdings dürfte auch deutlich werden, dass die methodisch schwer zu ermittelnden Innovationsmomente in der Produktion gar nicht in erster Linie ein Problem der Rezeption sind (die im naiven Fall eine verlorene Präsenz wiederherstellen möchte), sondern als Kontingenzerfahrungen einer jeden Produktion selbst bereits eingeschrieben sind.

  Es gibt in jedem Produktionsakt schlicht eine Undurchsichtigkeit im Zusammenspiel kontingenter Faktoren. Und in dieser Undurchsichtigkeit liegt der Grund für die Mystifikationsanfälligkeit aller Produktionstheorien, die diese (systematische) Undurchsichtigkeit substanziell durch das Eingreifen höherer Mächte (werden diese nun im Genie oder im Handwerk angesiedelt) wegerklären wollen. Das gilt besonders für die Rede von ‚Einfällen‘, obwohl gerade die implizite Metaphorik des Einfalls – dass etwas einfällt und zustößt – dabei helfen könnte, die Untersuchungsperspektive auf all jene ‚äußerlichen‘ Faktoren und deren Zusammenspiel auszuweiten, die von einem Subjekt selbst unmöglich ‚beherrscht‘ werden können, die aber eben deshalb einer Untersuchung durchaus offenstehen.

  Das Netzwerk versucht diesem Umstand Rechnung zu tragen, indem es mithilfe der genannten Stichwörter „Findkünste“, „Einfallstechniken“, „Ideenmaschinen“ nach Beschreibungsmodellen und Analysekriterien sucht, die eine solche Ausweitung der Untersuchungsperspektive zulassen, ohne dass deswegen auf eine materialnahe Auseinandersetzung verzichtet werden müsste. Der Ausweitung der Untersuchungsperspektive liegt letztlich die Einsicht zugrunde, dass sich Ideenfindungen gar nicht zutreffend beschreiben und analysieren lassen, wenn man sie allein aus der Perspektive eines literaturimmanenten Ansatzes zu fassen versucht.