Stephan Porombka
Improvisation als Merkmal neuer Formen der Literaturvermittlung


Die klassische Autorenlesung läuft nach festgesetzten Regeln: 1. Der Autor (im folgenden ist damit immer auch gemeint: die Autorin) wird vom Veranstalter begrüßt; 2. der Autor tritt auf die Bühne bzw. an den Lesetisch und setzt sich; 3. der Autor sagt etwas zur Entstehung des Textes und zum Ausschnitt, der nun vorgelesen wird; 4. der Autor liest; 5. der Veranstalter eröffnet die Diskussion des Autors mit dem Publikum. Im Mittelpunkt dieser Veranstaltungsform steht der bereits gedruckte Text, der den Autor bindet: Es muss genau das gelesen werden, was bereits im Buch steht. Für Improvisation ist dabei kein Platz. Mehr noch: Improvisation wirkt bei der klassischen Autorenlesung geradezu verstörend, weil das Publikum darauf eingestellt ist, den gedruckten Text in einem Zustand zu erfahren, den er einer alten Vorstellung von der Entstehung literarischer Texte entsprechend vor der Niederschrift hat – nämlich als Monolog, den der Autor denkt, murmelt oder spricht, während er sich über das Blatt beugt oder vor dem Bildschirm sitzt. Mit anderen Worten: In der klassischen Lesung will man den Autor sehen und will seine Stimme hören, um für einen Moment jene unmittelbare, auratische, authentische Verbindung zwischen Schöpfer und Werk herzustellen, mit deren Behauptung das literarische Kultmarketing seit dem 18. Jahrhundert operiert. Dementsprechend sind die klassischen Lesungen darauf angelegt, dass das Publikum sich auf den Körper und die Stimme des Autors konzentriert und in seiner unmittelbaren Gegenwärtigkeit meditiert.

  In den letzten zwanzig Jahren haben sich in Absetzung von der klassischen Lesung und im Rückgriff auf die Formate avantgardistischer Literaturbewegungen der 20er und 60er Jahre neue Formen der Präsentation von Literatur entwickelt, die sich den etablierten Regeln offensiv widersetzen. Sie lösen sich von der Fixierung auf den gedruckten Text und setzen verstärkt auf Improvisation. Damit verabschieden sie sich nicht nur vom traditionellen Autoren– und Leserbild. Sie experimentieren zugleich mit einem grundsätzlich neuen Verständnis von Literatur. Lesungen dieser Art orientieren sich sowohl an der Performance als auch an den Regeln der Fernsehshows. Sie werden interaktiver, indem sie das Publikum zum Akteur werden lassen, der den Verlauf der Lesung mitbestimmen kann. Sie arbeiten verstärkt mit dem Einsatz anderer Medien, um den vorgetragenen Text anzureichern und mit anderen Klängen, Geräuschen und Bildern ins Spiel zu bringen. Sie integrieren mehrere Lesungen in einer Veranstaltung oder sie lassen mehrere Lesungen in aneinandergrenzenden Räumen parallel stattfinden, um unterschiedliche Texte und Autoren miteinander zu konfrontieren. Sie inszenieren Wettkampfsituationen, denen sich die Autoren stellen müssen, ohne zu wissen, ob sie als Sieger oder Verlierer aus ihnen hervorgehen. Sie lösen die Lesung in mehrere kleine Einheiten auf, um die Veranstaltung kurzweilig, abwechslungsreich und unterhaltsam wirken zu lassen. Weil damit die Lesung (im Gegensatz zur „geschlossenen“ Form der klassischen Lesung) zu einer grundsätzlich ‚offenen‘ Form wird, fordert sie die Bereitschaft aller Beteiligten, zu improvisieren. Genauer: Die Bereitschaft und die Fähigkeit zu improvisieren wird zu einer wesentlichen Voraussetzung dieser neuen Lesungsformen. Was immer auch präsentiert wird, es muss den Eindruck machen, aus dem Moment heraus in Reaktion auf andere Reaktionen zu entstehen und damit neue, unabsehbare, unberechenbare Reaktionen hervorzurufen.

  In kulturkritischer Absicht werden diese neuen Formen häufig als Ausdruck der Eventisierung und der Kulturindustrialisierung der Literatur abgetan. Übersehen wird dabei, dass es sich um Experimentierformen handelt, mit denen versucht wird, die Literatur stärker an die Gegenwart zu binden. Und das heißt: Es geht nicht nur um den Versuch, die Literaturproduktion an die von den neuen, interaktiven, digitalen, vernetzten Medien bestimmte Gegenwart zu koppeln, in der das Paradigma der Tradition durch das der Innovation ersetzt worden ist. Es geht auch um den Versuch, das Paradigma der Innovation im Moment der Lesung selbst durch Improvisation erfahrbar zu machen und sie damit in eine performative Jetztzeitliteratur zu verwandeln, die sich für das interessiert, was „gerade eben jetzt“ (Eckhard Schumacher) passiert und den weiteren Verlauf des Textes bestimmt. Experimentiert wird damit – seit Beginn der neunziger Jahre – im Rahmen der äußerst populären Lesebühnen–Bewegung, im Rahmen der sog. Pop–Literatur, im Rahmen der Slam Poetry, im Rahmen immer neuer Literaturwettbewerbe, im Rahmen immer neuer Literaturfestivals, im Rahmen des öffentlichen Live–Schreibens im Netz und auf Bühnen und natürlich im Rahmen individueller Lese–Performances einzelner Autoren: Wladimir Kaminer, Thomas Kapielski, Benjamin von Stuckrad–Barre, Rainald Goetz, Rafik Schami, Max Goldt, Jörg Albrecht, Bas Böttcher, Fön…

  Aufgabe dieses Teilprojekts wird sein, diese neuen Formen der Literaturvermittlung im Hinblick auf ihren spezifischen Einsatz von Techniken der Improvisation zur literarischen Innovation genauer zu bestimmen und zu ordnen, zu historisieren und mit der Transformation der Kultur durch die Einführung neuer Medien zu kontextualisieren. Ziel des Teilprojekts ist, die durch diese Transformationen bedingte grundsätzliche Veränderung des Rollenverständnisses von Autor und Publikum und damit die Veränderung des kulturellen Literaturverständnisses über den Begriff der Improvisation genauer zu bestimmen. Nicht zuletzt sollen damit Hinweise für die Entwicklung neuer Formen der Literaturvermittlung gegeben werden, mit denen zukünftig vor allem junge Leser für die Literatur gewonnen werden können und mit denen dann auch eine erfolgreiche Leseförderung betrieben werden kann.