Paul Brodowsky
Einfälle herbeischreiben
Technik und Poetik der Avant–Texte bei Marcel Beyer


Der Romancier Marcel Beyer führt parallel zu der Entstehung seiner Romane Scheibtagebücher. Diese nicht zur Publikation vorgesehenen Aufzeichnungen sind ein Ort, an dem Beyer Ideen und Einfälle notiert und ausarbeitet. Diese mit der Terminologie von Almuth Grésillon als „Avant–Texte“ zu charakterisierenden Aufzeichnungen möchte ich auf die Entstehung von Einfällen hin untersuchen. Leitende Fragestellungen werden dabei sein: Wann und wie kommen ‚Einfälle‘ zustande – lassen sich äußere Faktoren identifizieren (Lektüren, Kommentare von Lesern, Schreiborte etc.)? Wie werden Einfälle umgrenzt, wie werden sie ‚ausprobiert‘, wann und wie werden sie als tragend empfunden? Wann und wie werden Einfälle verworfen? Wie genau wirkt sich Beyers Schreibtagebuch auf die Produktion von Einfällen aus? Und vor allem: Welche Schreibtechniken verwendet Beyer im Avant–Text, um zu Einfällen (und somit zu seinen Romanen) zu kommen?

  Untersuchen möchte ich dabei in erster Linie Aufzeichnungen aus dem Schreibtagebuch zu dem Roman Flughunde. Es handelt sich dabei um einen Text, der parallel zur Arbeit am eigentlichen, zur Publikation gedachten Textkonvolut entsteht; der die Arbeit am ,Manuskript‘ stützt, kommentiert, hemmt, unterbricht, überprüft; der dem Manuskript zuarbeitet und der eine Art Konzeptions– und Experimentierfeld für das Manuskript darstellt. Diese Aufzeichnungen sind äußerlich durch ihre Chronologie gegliedert. Beyer hat seine Aufzeichnungen im Schreibtagebuch, aber auch seine Materialien und seine Manuskriptfassungen durchgehend datiert.

  Die unterschiedlichen Manuskriptfassungen des Romans sind von großen Differenzen geprägt, was Konzeption, Personal, erzählte Zeit und weitere grundlegende Textentscheidungen betrifft. Einigermaßen konsistent sind lediglich die behandelten Themenkomplexe: deutsche Sprache, Nationalsozialismus und Akustik. Zwischen den einzelnen Manuskriptfassungen müssen also zahlreiche Inventionen stattgefunden haben. In dem Schreibtagebuch sind unzählige Ideen und Einfälle dokumentiert und expliziert; einige dieser Ideen haben große Bedeutung für den weiteren Schreibprozess gewonnen; andere Schreibideen haben in dem weiteren Prozess und den späteren Manuskriptfassungen wenig oder keine Spuren hinterlassen. Durch die genaue Chronologie der Aufzeichnungen lässt sich das Aufkommen, Ausbauen, Verfestigen oder auch das Verschwinden von Ideen detailliert nachvollziehen.

  Beyer hat sich mit seinen Schreibtagebüchern ein Instrument geschaffen, um Ideen aufzuzeichnen, auszuprobieren, auszuweiten und zu festigen oder zu verwerfen – eine Art Maschine oder Medium, um Einfälle zu produzieren und handhabbar zu machen. Mein erster, globaler Eindruck nach der Sichtung des Materials ist, dass der Schreibprozess zu Flughunde sehr unlinear verläuft, von Sackgassen und massiven Umplanungen geprägt ist. Die dabei auftretenden Inventionen entstehen weder spektakulär blitzartig, noch sind sie für den Autor vorhersehbar oder planbar; sie erhärten sich erst allmählich aus einer großen Menge von kleinen Ideen als „neuartige, für das weitere Vorgehen leitende Perspektiven“.

  Im Rahmen meiner weiteren Forschungsarbeit möchte ich die Analyse des Avant–Textes weiter ausbauen. Für bestimmte Verfahren müssen zum Teil erst Begriffe gefunden werden. Anschließen kann man teilweise an Terminologien, die A. Grésillon und L. Hay für Brouillons und Avant–Texte entwickelt haben; sicherlich sind auch Überlegungen zu Handlungsstrategien und –taktiken von M. de Certeau aufschlussreich für die Analyse von Beyers Vorgehen; schließlich lässt sich das Auffinden und Entwickeln von Ideen mit R. Sennett auch als „Handwerk“ beschreiben, bei dem Erfahrungswissen und konzeptionelle Intelligenz zusammenspielen.